S4F: Kernenergie ist eine teure Inno­vations­bremse und gefährliche Investitions­barriere

Seit der Energiekrise werden Kernkraftwerke wieder verstärkt als zuverlässige und preiswerte Option für Energieversorgung und Klimaschutz ins Spiel gebracht. Doch das Gegenteil ist der Fall. Auch wenn im Bundestagswahlkampf anderes verlautbart wird, sind bahnbrechende technologische Fortschritte, etwa durch neue Reaktortypen wie die Small Modular Reactors (SMR) oder Fusionsreaktoren in den nächsten, im Kampf um das Klima entscheidenden Jahrzehnten nicht zu erwarten.

Kurz vor den anstehenden Bundestagswahlen kursieren wieder vermehrt Meldungen in den Nachrichten rund um Kernenergie, Kernfusion und die nukleare Wiederaufarbeitung gefährlicher, hochradioaktiver Substanzen sowie vermeintliche Durchbrüche bei Reaktortechnik oder dem Gefährdungspotential und der Lagerdauer von nuklearen Brennstoffen.

Immer wieder wird dabei auch die Kernenergie als preiswerte Option für den Klimaschutz ins Spiel gebracht. Die Realität sieht jedoch anders aus: Ob Hinkley Point (UK), Olkiluto (Finnland) oder Flamanville (Frankreich): überall explodieren die Baukosten und in der Folge auch die Strompreise.

Keine Renaissance der Kernkraft in Sicht

Obwohl vor wenigen Tagen selbst der französische Rechnungshof angesichts der massiven Kosten und mangelnder Rentabilität der Technologie die Atomnation Frankreich zum Ausstieg mahnte, versprechen deutsche Politiker eine Renaissance und Wiederinbetriebnahme stillgelegter Atomkraftwerke. Dabei investieren aber laut World Nuclear Report nur noch 13 Länder in neue Kernkraftwerke. In Zeiten sich mehrender Terrorangriffe und des Ukrainekrieges verdeutlicht der Drohnenangriff auf den Sarkophag der Atomruine Tschernobyl oder die dramatischen Attacken auf Europas größtes Kernkraftwerk Saporischschja die strategischen Gefahren von nuklearen Anlagen. 

Dass der CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz den Atomausstieg noch im Januar 2025 in der FAZ als „schweren strategischen Fehler“ kritisiert [2], ist aus wissenschaftlicher Sicht kaum verständlich. Er beklagt, dass diese Entscheidung „mit sachlichen Entscheidungen nichts zu tun gehabt“ habe und dass es „blanke Ideologie sei, auf dem Höhepunkt einer Energiekrise drei funktionierende, vollkommen störungsfrei laufende Kernkraftwerke stillzulegen“. Der Blick auf aktuelle Fakten zeigt eher, dass Kernenergie teuer ist und sie als kurzfristige, sichere Alternative der Stromversorgung nicht zur Verfügung steht.

Stromkosten durch Atomausstieg nicht gestiegen

Falsch ist beispielsweise die oft gehörte Behauptung, dass die Stromkosten durch den Atomausstieg angestiegen seien. Prof. Dr. Claudia Kemfert bringt es in einer Sachverständigenanhörung des Bundestages 2024 auf den Punkt: „Die Day-Ahead-Strompreise sanken sogar am 15. April 2023, trotz der Stilllegungen.“ [3] Und auch insgesamt sind die Stromgestehungskosten der Kernkraft hoch, im Vergleich zu anderen Stromerzeugungstechnologien die höchsten überhaupt: 

Heute sind Erneuerbare Energien, insbesondere Sonne und Wind, kostengünstigere Wettbewerber der Atomenergie, die nur etwa ein Viertel der Stromgestehungskosten pro KWH verursachen. Eine Studie der US-Investmentbank Lazard kommt zu dem Schluss, dass Strom aus regenerativen Quellen nur 5 US-Cent pro KWH kostet, Kernenergie fast 20 Cent.

Neue Reaktortypen und Wiederaufarbeitung unrealistisch

Auch die von Bayerns Ministerpräsident Söder und amerikanischen KI-Konzernen jüngst wieder ins Gespräch gebrachten kleinen, modularen Reaktoren (Small Modular Reactors, SMR), im deutschen „Sogenannte Neuartige Reaktorkonzepte“ (SNR) genannt, sind nicht geeignet, einen sinnvollen Beitrag zur Energiewende zu leisten. In einer Studie vom Februar 2024 schätzen Christian Pistner und seine Mitautoren den Sachverhalt vielmehr wie folgt ein [4]: 

Die vielfach in der öffentlichen Diskussion und von Entwicklern selbst formulierte Erwartung, dass SNR einen signifikanten Beitrag zur Lösung der heutigen Probleme der Kerntechnik betragen können, kann angesichts des gegenwärtigen Entwicklungsstandes dieser Systeme und der tatsächlich nachgewiesenen und erwartbaren Vor- aber auch Nachteile der einzelnen Technologielinien damit insgesamt nicht als realistisch eingeschätzt werden.“

Zu den gleichen Ergebnissen rund um Kernkraft kommen zahlreiche weitere wissenschaftliche Studien, viele ebenfalls mit Beteiligung von Wissenschaftlern, die die Scientists for Future unterstützen. Sie finden sie zusammen mit dieser Mitteilung auf der Webseite [1].

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Links

[1] Link zu diesem Text und der Literaturliste auf der Webseite der Scientists for Future Deutschland.

[2] FAZ, „Energiepolitik der Union: Merz glaubt nicht an eine Atomkraft-Rückkehr“ vom 13. Januar 2025: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/mehr-wirtschaft/merz-glaubt-nicht-an-eine-atomkraft-rueckkehr-110229309.html

[3] Prof. Dr. Claudia Kemfert, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU), in ihrer Stellungnahme der Sachverständigenanhörung zur Entscheidung des Streckbetriebs der verbleibenden Atomkraftwerke im Winter 2022/2023: https://www.bundestag.de/resource/blob/1030742/9c0213c89938239eac0ab443cfa085d6/MAT-A-SV-1-02.pdf

[4] Pistner, Christoph, Matthias Englert, Christian Küppers, Ben Wealer, Björn Steigerwald, Christian von Hirschhausen, und Richard Donderer. 2021. „Sicherheitstechnische Analyse und Risikobewertung einer Anwendung von SMR- Konzepten (Small Modular Reactors)“. Wissenschaftliches Gutachten im Auftrag des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) urn:nbn:de:0221-2021030826028. Darmstadt: Öko-Institut e.V. : https://www.base.bund.de/SharedDocs/Downloads/BASE/DE/fachinfo/fa/Abschlussbericht_neuartige_Reaktorkonzepte_2024.pdf?__blob=publicationFile&v=5

Literaturliste:

[1] Prof. Dr. Claudia Kemfert Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) in ihrer Stellungnahme der Sachverständigenanhörung zur Entscheidung des Streckbetriebs der verbleibenden Atomkraftwerke im Winter 2022/2023:  https://www.bundestag.de/resource/blob/1030742/9c0213c89938239eac0ab443cfa085d6/MAT-A-SV-1-02.pdf.

[2] Wimmers, Alexander, Paul-Jonas Ummethun, Anke Herold, Claudia Kemfert, Björn Steigerwald, und Christian von Hirschhausen. 2025. „Russische Exporte von Uran und Atomtechnologie in die EU – Optionen für alternative Beschaffung“. Ein Debattenbeitrag. Diskussionsbeiträge der Scientists for Future. https://doi.org/10.5281/zenodo.14728811.

[3] Hennicke, Peter, Anna Röttger, Fabian Präger, und Christian von Hirschhausen. 2024. „Das Atomstromsystem bremst die sozial-ökologische Transformation zur Dekarbonisierung“. Diskussionsbeiträge der Scientists for Future. https://de.scientists4future.org/das-atomstromsystem-bremst-die-sozial-okologische-transformation-zur-dekarbonisierung-ein-impuls/.

[4] Klafka, Peter, Peter Hennicke, Björn Steigerwald, und Christian von Hirschhausen. 2024. „Kosten der Kernkraft in einem Energiesystem mit hohem Anteil erneuerbarer Stromerzeugung. Ein Debattenbeitrag.“ https://doi.org/10.5281/ZENODO.12773573.

[5] Wealer, Ben, Christian Breyer, Peter Hennicke, Helmut Hirsch, Christian von Hirschhausen, Björn Steigerwald, Peter Klafka, Claudia Kemfert,  u. a. 2021. „Kernenergie und Klima“. 9. Diskussionsbeiträge der Scientists for Future. Zenodo. https://doi.org/10.5281/ZENODO.5573718.

[6] Wimmers, Alexander, Leonard Göke, Christian von Hirschhausen, und Claudia Kemfert. 2023. „Ökonomische Aspekte der Atomkraft“. Kurzgutachten im Auftrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Berlin. https://umweltfairaendern.de/wp-content/uploads/2023/07/Bundestags-Fraktion-DIE-Gruenen-Studie_Oekonomische_Aspekte_der_Atomkraft.pdf

[7] Pistner, Christoph, Matthias Englert, Christian Küppers, Ben Wealer, Björn Steigerwald, Christian von Hirschhausen, und Richard Donderer. 2021. „Sicherheitstechnische Analyse und Risikobewertung einer Anwendung von SMR-Konzepten (Small Modular Reactors)“. Wissenschaftliches Gutachten im Auftrag des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) urn:nbn:de:0221-2021030826028. Darmstadt: Öko-Institut e.V. https://www.base.bund.de/SharedDocs/Downloads/BASE/DE/fachinfo/fa/Abschlussbericht_neuartige_Reaktorkonzepte_2024.pdf?__blob=publicationFile&v=5.

[9] Wimmers, A., Ummethun, P.-J., Herold, A., Kemfert, C., Steigerwald, B., & von Hirschhausen, C. (2025). Russische Exporte von Uran und Atomtechnologie in die EU – Optionen für alternative Beschaffung. Ein Debattenbeitrag. Diskussionsbeiträge der Scientists for Future, 20, 1 – 23. https://zenodo.org/records/14728811

[10] Präger, Fabian, Christian Breyer, Hans-Josef Fell, Christian Von Hirschhausen, Claudia Kemfert, Björn Steigerwald, Thure Traber, und Ben Wealer. 2024. „Evaluating nuclear power’s suitability for climate change mitigation: technical risks, economic implications and incompatibility with renewable energy systems“. Frontiers in Environmental Economics 3 (April):1242818. https://doi.org/10.3389/frevc.2024.1242818.

[11] Böse, Fanny, Alexander Wimmers, Björn Steigerwald, und Christian Von Hirschhausen. 2024. „Questioning Nuclear Scale-up Propositions: Availability and Economic Prospects of Light Water, Small Modular and Advanced Reactor Technologies“. Energy Research & Social Science 110 (April):103448. https://doi.org/10.1016/j.erss.2024.103448.

[12] Steigerwald, Björn, Jens Weibezahn, Martin Slowik, und Christian Von Hirschhausen. 2023. „Uncertainties in Estimating Production Costs of Future Nuclear Technologies: A Model-Based Analysis of Small Modular Reactors“. Energy 281 (Oktober):128204. https://doi.org/10.1016/j.energy.2023.128204.

[13] Weibezahn, Jens, und Björn Steigerwald. 2024. „Fission for Funds: The Financing of Nuclear Power Plants“. Energy Policy 195 (Dezember):114382. https://doi.org/10.1016/j.enpol.2024.114382.

[14] Bärenbold, Rebekka, Muhammad Maladoh Bah, Rebecca Lordan-Perret, Björn Steigerwald, Christian Von Hirschhausen, Ben Wealer, Hannes Weigt, und Alexander Wimmers. 2023. „Cross-country survey on the decommissioning of commercial nuclear reactors: status, insights, and knowledge gaps“. Safety of Nuclear Waste Disposal 2 (September):3-4. https://doi.org/10.5194/sand-2-3-2023.

[15] Wimmers, Alexander, Rebekka Bärenbold, Muhammad Maladoh Bah, Rebecca Lordan-Perret, Björn Steigerwald, Christian von Hirschhausen, Hannes Weigt, und Ben Wealer. 2023. „Decommissioning of Nuclear Power Plants: Regulation, Financing, and Production“. DIW Data Documentation 104. Berlin: DIW Berlin, German Institute for Economic Research. https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.864222.de/diw_datadoc_2023-104.pdf.

[16] Wimmers, Alexander, Fanny Böse, Jasmin Beppler, Pauline Morawe, Maximilian Weber, und Christian Von Hirschhausen. 2024. „(Re)integrating radioactive materials and waste into a global sustainable development context“. Radiation and Environmental Biophysics. https://doi.org/10.1007/s00411-024-01088-x.

[17] Wimmers, Alexander, und Christian Von Hirschhausen. 2024. „Organizational Models for the Decommissioning of Nuclear Power Plants: Lessons from the United Kingdom and the United States“. Utilities Policy 91 (Dezember):101843. https://doi.org/10.1016/j.jup.2024.101843.